Presse-Aussendung vom 01.08.2001

Wiener Wohnträume zur Jahrtausendwende

Ich muss rauf, ganz rauf...

Von Robert Lechner und Inge Schrattenecker

" ... aber ich muss rauf, ich muss von oben herunterschauen. Das ist irgendwie eine wichtige Sache für mich. Die Hälfte meines Bekanntenkreises will waagrecht raus in der Früh in den Garten und ich bin der Typ, der von oben runter schauen will. Die Terrasse, habe ich mir zuerst gedacht, das ist eigentlich eine große Verschwendung, diese große Terrasse. Aber wenn meine Tochter kommt mit ihren 20 Paar Schuhen, dann stehen die alle draußen, und auch ihre Koffer, und die Kinder können draußen spielen. Also das ist schon ganz gut, wenn man was rausstellen kann. Und ich runterschauen kann, von ganz oben ..."
Rosa P., 70 Jahre, über ihre Wohnung im 32. Stockwerk.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Zumindest sagt man das so. Aufgrund der Erkenntnisse des Projekts "wohnträume" sind wir uns diesbezüglich gar nicht mehr so sicher. Oder vielleicht besser formuliert: Vielleicht haben wir Wohnbauexperten ein etwas falsches Bild von "der Regel". Umfangreiche Erhebungen und Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern in neuen innovativen Wohnbauten in Wien weisen darauf hin, dass es den "Normbewohner" mit seinen bekannten und durch Marktforschung einschätzbaren Bedürfnissen nicht mehr wirklich gibt. Die zukunftsorientierte Baubranche befindet sich derzeit vor einer neuen Aufgabenstellung: sich soll Wohnbauten schaffen, die stabile Qualitätskriterien erfüllen und gleichzeitig ein möglichst heterogenes und flexibles Wohnungsangebot schaffen. Die alten Anforderungen kennen wir: rund 75 Quadratmeter, drei Zimmer samt Nebenräumen, Terrasse oder Balkon. Und natürlich leistbar. Maßgeschneidert für den Drei-Personen-Haushalt, wenn es kein Kind gibt, dann kann man sich sogar ein Arbeitszimmer leisten. Aber lieber eins nach dem anderen ...

Am Standort hängt das Wohnglück

In fünf innovativen Wiener Wohnbauten wurden im Jahr 2000 rund 2.000 Bewohner zu ihren Wohnwünschen und ihrer Wohnzufriedenheit befragt. Bei der Auswahl der Gebäude wurde bewusst wert darauf gelegt, dass es sich nicht ausschließlich um "Öko-Häuser" handelt, sondern die Wohnbauten auch mit anderen gesellschaftspolitischen Ansprüchen gebaut wurden. Deshalb spannt sich der Bogen auch von einer Autofreien Wohnsiedlung über ein kostensparendes Selbstbauprojekt und Niedrigenergiebauten bis hin zum Mischek-Tower - Österreichs höchstem Wohnhaus. Ein Hauptergebnis dieser Befragung bestätigt die Zielsetzungen einer nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik in eindrucksvoller Weise: Ohne zumindest gute bis herausragende Standortqualität ist keine Akzeptanz bei Wohnungssuchenden für ein Wohnbauvorhaben zu haben. Entscheidend für die Wohnungswahl ist demnach die Nähe zu Versorgungseinrichtungen, eine ansprechende Wohnumgebung und die angenehme Erreichbarkeit von Arbeitsplatz und/oder Freizeitangeboten. Erreichbarkeit wird diesbezüglich in städtischen Gebieten mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Hochleistungsbereich wie U-Bahn gleichgesetzt, am Stadtrand tut es auch eine entsprechende Bus- oder Straßenbahnanbindung an den nächsten hochwertigen öffentlichen Verkehrsknoten. Gleichwertig mit diesen "harten Standortfaktoren" können Kriterien wie Helligkeit und guter Grundriss der Wohnung als "harte Objektkriterien" genannt werden. Dass dies alles von den Bauträgern zu einem "ausgewogenen Preis-/Leistungsverhältnis" angeboten werden muss, versteht sich nahezu von selbst. Wo aber bleibt die Innovation als Entscheidungskriterium?

Innovationen erwünscht?

Von Vordenkern im Wohnbau propagierte und nicht immer einfach zu realisierende Innovationen, wie Passivhäuser, mitbestimmtes Wohnen oder High-Tech-Living sind für die Wohnungssuchenden erst bei Erfüllung der oben genannten und durchaus als "konservativ" zu bezeichnenden "harten" Kriterien relevant. Diese Bedürfnisse segmentieren den Wohnungsmarkt auf hohem Niveau und sind dann der "Zucker am Kuchen" (österreichisches Traditional) oder das "Sahnehäubchen auf dem Kaffee" (deutsches Pendant). Anders formuliert: All unsere Bemühungen um zukunftsweisendes Bauen sind selbst für die Bewohner zukunftsweisender Gebäude nur die Draufgabe für einen soliden, nach langjährig bekannten Prinzipien errichteten Wohnbau. Die "harten" Kriterien der Wohnzufriedenheit müssen erfüllt werden, erst dann werden weitere "weiche" Kriterien von den Bewohnern zur Beurteilung herangezogen. Dann aber dienen Innovationsaspekte, Besonderheiten und manchmal auch nur die Farbe der Fassade sehr wohl als wichtiges Unterscheidungskriterium für gleichwertige Angebote: Die Wohnungssuchenden sammeln somit Angebote "vergleichbarer" Qualität, wobei die Standortfrage und das Preis-/Leistungsverhältnis entscheidend für die Auswahl sind. Danach wählen sie - ganz nach ihren individuellen Vorlieben und Bedürfnissen - das angenehmste und somit ansprechendste Angebot für sie aus. Ökologie beim Bauen, herausragende Freiräume und Gemeinschaftsräume oder ein Hochleistungsanschluss für die Telekommunikation können hier ausschlaggebend sein.

Stadt und Land verschwimmen

Das bedeutet, dass ein innovativer und ökooptimierter Wohnbau in abgelegenen Gebieten nur bedingt zur Zufriedenheit seiner Bewohner beitragen kann. Räumliche Distanz zu urbanen und damit meist auch hochwertigen Infrastruktureinrichtungen kann bei freiraumfixierten Wohnraumsuchenden zwar mit Hilfe leistungsfähiger Verkehrsmittel (öffentlicher Verkehr und/oder Auto!) ausgeglichen werden, ersetzen kann sie derartige Zufriedenheitsaspekte aber nicht. Oft kehrt sich die Zufriedenheit mit "dem Acker oder der Wiese vorm Fenster" alsbald auch ins Gegenteil um: Naturraumnahe Siedlungsgebiete in Stadtnähe mit guter Verkehrserschließung sind einem erhöhten Besiedlungsdruck ausgesetzt. Sie werden über kurz oder lang immer dichter bebaut und dann ist es mit der Idylle dahin. Umgekehrt führt die gleiche Verkehrsinfrastruktur aber auch dazu, dass Bewohner in urbanen Wohngebieten Freiräume "am Land" aufsuchen. Die Verkehrsinfrastruktur kompensiert somit die Vor- und Nachteile von Stadt und Land, Bewohner wollen beides. Wenn man Bewohner nach ihren Wohnträumen fragt, bekommt man daher zwangsläufig ein schizophrenes Bild: Vorne raus - sozusagen zur Einfahrt hin - findet man die U-Bahn, den Arbeitsplatz, das Kino, Theater und sämtliche Nahversorgungseinrichtungen. Und Hinten raus spazieren die Bewohner in ihren Träumen durch grüne Wiesen und Wälder, schwimmen im Teich und sind Aug' in Aug' mit sämtlichem wilden Getier. Es verwundert daher nicht, dass 40 Prozent der in "Wohnträume" befragten - städtischen - Bewohner als "Wohntraum Nr. 1" das freistehende Einfamilienhaus angeben. Gleichzeitig sind diese Befragten mit der derzeitigen Wohnsituation - im verdichteten Wohnbau der Stadt - überdurchschnittlich zufrieden. Im Rahmen der nach quantitativen Befragungen durchgeführten Bewohner-Interviews wird der Wunsch nach Idylle auch wieder relativiert: Freiräume ja, aber nur dann, wenn die Nähe zum Urbanen erhalten bleibt.

Rosa P. ist die Regel

Wenden wir uns wieder der 70-jährigen Pensionistin Rosa P. im 32. Stockwerk des größten Wohnhochhauses in Österreich zu. Sie ist uns mit ihrem Wohnbedürfnis besonders ans Herz gewachsen und war dennoch in unserer Befragung keine Ausnahme. Im Rahmen von "wohnträume" konnte das Projektteam viele Rosas - alte und junge, familiär oder allein stehend, mann und frau - kennen lernen, die alle Ausnahmen waren und somit "zur Regel" wurden. Und diese "Rosas" pochen alle auf ihre Art und Weise auf ihre Individualität, auf ihr zutiefst eigenes Bedürfnis nach "Wohnen". Da sind wie in jedem anderen Bereich auch Mainstreams an Bedürfnissen zu bemerken, dennoch hat sich uns in "wohnträume" eine wesentliche Erkenntnis erschlossen: der qualitativ hochwertige Wohnbau muss sich künftig mehr den je dem Prinzip der Vielfalt verschreiben. Und das ist in einer Gesellschaft mit Hang zum standardisierten Bauen schwierig. Der Innovationsbegriff im Wohnbau muss vor diesem Hintergrund und den zahlreichen anderen Projektergebnissen von "wohnträume" kritisch überdacht werden. Eine innovative Wohnbauentwicklung muss vorangetrieben werden. "Mutige" Bauherren und mehr Förderungen für Innovationen sind dafür Voraussetzung. Aus Sicht des Projektes "wohnträume" sollten aber in Zukunft verstärkt neue Entwicklungen gefördert werden, die den Bedürfnissen der Nutzer von Gebäuden entgegen kommen. Und dies sind nicht immer nur planerisch-technische Innovationen. Ein vielleicht provokantes Beispiel: Ein wesentlicher Schwerpunkt im innovativen Bauwesen liegt derzeit bei der Ökologisierung von Gebäuden im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Niedrig- und sogar Passivhausstandard oder verstärkter Einsatz nachwachsender Rohstoffe sind im ressourcenintensiven Bauwesen unbedingt notwendig. Tragen wir damit aber auch automatisch zur Zufriedenheit der Bewohner bei?

Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Politische Ökologie (8/2001, Schwerpunkt »NeuHausen - Nachhaltig bauen und wohnen«).