Bibliothek der Ökologie

Rezension

Reichholf, Josef H.: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends; Rez.; Frankfurt: S.Fischer, 2007. - 336 S. - ISBN 978-3-10-06294-5; Standort/Signatur: ÖI: B01.655

Verena Winiwarter schreibt:

Im besprochenen Werk geht es vorwiegend um den Einfluss, den Klimaänderungen auf andere biologische und auf kulturelle Systeme haben. Der Titel führt also ein wenig in die Irre. Der Autor, in München an der Zoologischen Staatssammlung tätiger Biologe und Autor mehrerer Sachbücher über Themen von Ökologie bis Sport, vermutet in seinem Vorwort, dass ihm leicht ein platter Biologismus unterschoben werden könne. Dabei, so Reichholf weiter, gehe es ihm nicht darum, menschliche Geschichte allein aus der Natur heraus zu "erklären", sondern darum, Natur und deren Veränderungen als Rahmenbedingungen historischer Prozesse verstärkt in die Betrachtung einzubeziehen (13). Was aber anderes als platter Biologismus steckt hinter seiner Beobachtung, dass Frauenklöster im Mittealter den Überschuss an weiblicher Bevölkerung aufgenommen haben, das Mittelalter sei die grosse Zeit der Klostergründungen gewesen, so sei der Bevölkerungsüberschuss jahrhundertelang zumindest teilweise aufgefangen worden (39)? Solche Argumentation ist für HistorikerInnen schwer erträglich. Reichholf ermangelt es an einem Konzept, WIE Natur und Gesellschaft interagieren. Dazu hätte es genügt, etwa die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gemachten Überlegungen der französischen Annales-Schule einzubeziehen. Diese Historiker sehen, dass die Geschichte in ihrer langfristigen Entwicklungen von Natur (als longue durée) beeinflusst werde, und es dazu aber auch die gesellschaftlichen Strukturen und Ereignisse gäbe, deren Wechselspiel erst Geschichte erklärbar mache. Noch besser wäre ein Ko-evolutionäres Konzept gewesen, doch Gesellschaft bleibt für Reichholf Bevölkerung, und also mit demografischen Konzepten zu fassen. Es mangelt dazu noch an historischem Wissen. So werden etwa "die Wirren der Völkerwanderungszeit" beschworen, eine unter Fachhistorikern kaum mehr als passend empfundene Beschreibung der Transformation des Imperium Romanum. Der Autor geht nicht auf kritische Distanz zu den historischen Quellen, so stellt er z.B. fest, dass Tacitus schon recht gehabt haben wird, als er die Germanen als in finsteren Wäldern wohnend beschrieb, und leitet daraus Aussagen über den Waldzustand ab. Reichholf hat eine bemerkenswerte Menge an Fakten zusammengetragen und in ein (biologisch) evolutionäres Gesamtbild integriert, mit einer Betonung der Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Seine Botschaften sind einfach: 1) Das Klima hat sich immer wieder gewandelt, es ist heute nicht "am wärmsten", das ist ein Artefakt zu kurzer Mittelwertbildungen. 2) Warmzeiten der jüngeren Menschheitsgeschichte waren die besseren Zeiten für Menschen. Fazit: keine Angst vor dem Klimaschock. Aber Bewahrung der tropischen Regenwälder und der Artenvielfalt insgesamt, und Nachhaltigkeit im Bewusstsein der Offenheit der Evolution. Man kann und wird Reichholf in vielen Details zustimmen, seine gesamthafte Sicht der Dinge wird eher zu Diskussionen Anlaß geben, denn als sachliche Darstellung akzeptiert werden. Problematisch erscheint der Rezensentin die Sicherheit, mit der Reichholf aus persönlicher Anschauung und Sekundärliteratur ein für ihn stimmiges Bild entwirft, dem es an jeder kritischen Distanz mangelt. Sachbücher, die Antworten geben, verkaufen sich besser als solche, die Fragen aufwerfen. Wissenschaftlichen Standards genügt das Buch kaum, doch das ist auch nicht sein Anspruch. (Verena Winiwarter)